So viele Vorteile hat der Fachkräftemangel…

„Was sind denn die Vorteile am Fachkräftemangel?“

Das fragte mich kürzlich die Chefin einer Event-Agentur, die einen Vortrag angefragt hat.
Dass ich Vorteile sehe, das impliziert ja mein Buch- und Vortragstitel mit dem Glücksfall.
Schreibe ich hier meistens aus der Sicht von Unternehmer und Unternehmen – geht´s heute mal um den Blick aufs große Ganze. Den Blick auf Arbeitswelt und Gesellschaft. Jenseits der einzelnen Firmen.
Da gibt es tatsächlich eine Menge Potenzial, die Entwicklung positiver zu sehen als sie im Klagen über fehlende Arbeitskräfte üblicherweise klingt.
Dazu haben ich heute 2 Perspektiven. Die zweite sind Thesen, wie der Leidensdruck Fachkräftemangel die (Arbeits-)Welt besser machen kann. Die kommen gleich.
Die erste Perspektive: Bevor wir über den Mangel klagen, streichen wir doch alle Jobs, die wir nicht brauchen.

Wozu braucht man das?

Diese Frage stelle ich mir manchmal.
Kennen Sie das? Da geht man gehetzt ans Telefon, nur um dann festzustellen, dass die flunkerdiebunte Service GmbH mir Energievertrag, Krankenversicherung oder Geldanlage aufschwatzen und meine Daten ermitteln und verkaufen will. Grrrrhhh.
Kann man diese hunderttausende Call-Center-Mitarbeiter* nicht zu Pflegekräften umschulen?
Das wäre sinnvoller.

Oder wenn Bekannte von ominösen Geldanlage- und Vorsorgeprodukten* erzählen, die ihnen von mehr oder weniger persönlich bemühten, provisions-angetriebenen Finanz-Vertrieblern untergejubelt wurden? Für Menschen und deren Altersvorsorge ist das selten nützlich. Grrrrhhh.
Kann man diese netten Menschen nicht zu Brummifahrern oder Servicekräften in der Gastronomie umschulen? Oder zu Gas- und Wasserinstallateuren?

Oder die Heerscharen von Mitarbeitern, die heute unnötigerweise Formulare ausdrucken, ausfüllen und wieder einscannen, weil die Digitalisierung im Faxgerät stecken geblieben ist?

Na gut, ich seh´s ja ein. Die kann man nicht zu den dringend benötigten Softwareentwicklern machen, die überall fehlen.
So mancher der sogenannten „Bullshit-Jobs“, in denen Menschen für etwas bezahlt werden, dessen Sinn sich ihnen selbst nicht erschließt – die könnten einfach verschwinden. Dann wäre ein Teil des Problems schon behoben.

Fachkräftemangel – ein Luxusproblem?

Eigentlich ist es doch gut. Endlich ist nicht mehr Arbeitslosigkeit der Schmerzpunkt. Menschen finden Jobs, können sich vielleicht sogar aussuchen, was sie machen wollen. Das ist doch eine positive Entwicklung! Vollbeschäftigung war doch immer das wirtschaftspolitische Idealbild – und jetzt nähern wir uns diesem Zustand endlich – und jetzt klagen wir?

Die Bewertung hängt natürlich stark von der Perspektive ab. Für die einen (Mitarbeiterblick) brechen goldene Zeiten an, die anderen (Arbeitgeberperspektive) müssen sich unglaublich ins Zeug legen, um im Wettbewerb um gute Mitarbeiter nicht unterzugehen.

Doch mit etwas mehr Abstand wird eine andere Wirkung sichtbar:
der Leidensdruck durch den Fachkräftemangel
führt zu Veränderungen und Verbesserungen in der Arbeitswelt.

Nicht immer ganz freiwillig, aber am Ende heiligt der Zweck die Mittel.
In meinem Buch habe ich diese Auswirkungen ausführlich beschrieben.
Wie sehen Sie das? Teilen Sie meinen Blick? Sehen Sie weitere Aspekte? Kennen Sie Beispiele, wo man das schon sehr deutlich erkennt? Ich freue mich auf die Diskussion und Ihre Kommentare.

Leidensdruck als Treiber von Verbesserungen

Los geht´s. Was macht der Leidensdruck also besser?

These 1: Fachkräftemangel lässt schlechte Führung alt aussehen
Da sind Sie sicher schnell bei mir. Wenn die Hälfte der Mitarbeiter sich mit Wechselabsichten tragen. Wenn weiterhin viele Menschen über schlechte Führung klagen. Wenn Menschen ihre Firmen verlassen, weil sie ihre Chefs und Chefinnen nicht mehr ertragen oder die sie nicht ordentlich und wertschätzend behandelt werden.

Je mehr Fachkräftemangel, desto schlechter die Chancen für Firmen mit schlechter Führung.

Wer das nicht versteht und ändert, ist weg. Hart für die Betroffenen, aber heilsam für die Arbeitswelt als Ganzes. Schlechte Firmen verschwinden, gute finden neue Kräfte und die Situation für die Mitarbeiter wird besser.

These 2: Fachkräftemangel macht Arbeit mobiler, flexibler und menschlicher
Auch ein No-Brainer. Haben wir gerade durch. Doch – Homeoffice geht. Teilzeit in Führungspositionen? Geht auch. Flexiblere Arbeitszeiten – natürlich. Wer zurück will in die alten Zeiten, geht allein. Da müssen wir heute nicht viel drüber reden, oder?

These 3: Fachkräftemangel erzeugt Willkommenskultur und Integration
Jetzt wird es schon spannender. Wenn einige Millionen Arbeitskräfte fehlen ist die Conclusio doch klar:

„Entweder entwickeln wir eine Willkommenskultur für Menschen oder eine Verabschiedungskultur für Arbeitsplätze.“

Dabei führt die hierzulande immer noch bestehende argumentative Vermischung von Migration aus humanitären Gründen mit echter und gesteuerter Arbeitsmigration leider immer wieder in die Irre.
Worum es geht, sind kluge und für alle Beteiligten sinnvolle Verfahren, Menschen mit den richtigen Qualifikationen in einem gut organisierten Prozess für einige Jahre oder dauerhaft zu uns zu holen und hier so zu integrieren, dass für alle ein positiver Effekt entsteht. Ohne Leidensdruck hätten wir immer noch kein Zuwanderungsgesetz und würden uns auch viel zu wenig um entsprechende Projekte bemühen.

These 4: Fachkräftemangel fördert die Gesundheit am Arbeitsplatz
Ok – das kann auch andersrum funktionieren. Nach dem Motto „Fehlen Kollegen, geht´s für die anderen auf die Knochen“.
Was ich meine, ist das Gegenteil: Jetzt ist allen bewusst, wie wichtig es ist, möglichst viele Menschen lange und gesund im Arbeitsleben zu halten. Auf einmal strengt man sich an. Jetzt gibt es den guten Stuhl und den höhenverstellbaren Schreibtisch vielleicht schon, bevor der Betriebsarzt den ersten Bandscheibenvorfall attestiert hat.

These 5: Fachkräftemangel erhöht die Wahrnehmung für besondere Menschen
In der alten Arbeitswelt hat man nicht den ganzen Menschen gesehen. Es ging um die Arbeitskraft und die hatte zu funktionieren. Als „normaler“ Mensch.
Das Menschen nicht „normal“ sind – jedenfalls nicht, wenn man sie näher kennt – wissen wir eigentlich. Trotzdem wurden in der Arbeit immer alle über einen Kamm geschoren. Arbeiten von 9-17 Uhr, Großraumbüro, Schichtarbeit, gleiche Ansage für alle.
Damit kommen viele Menschen nicht klar. Weil sie anders ticken, besondere Fähigkeiten – aber auch Anforderungen haben. Menschen sind grundverschieden – und je größer der Leidensdruck des Fachkräftemangels ist, desto eher kümmert man sich und begegnet Menschen individueller. Da sind verschiedenen Charaktere – Extrovertierte und Introvertierte. Da sind Frühaufsteher und Nachteulen. Warum können die nicht zu verschiedenen Zeiten arbeiten? Da sind Hochsensible. Für die sind Großraumbüros die Abkürzung zu Burnout und Vorruhestand. Da sind ADH- und ADHS-Menschen, Menschen aus dem autistischen Spektrum – und ach so viele Besonderheiten.
Früher hat man sich darum nicht geschert. Wer nicht funktioniert, ging halt verloren. Sind gute Mitarbeiter knapp, schafft man eher Rahmenbedingungen, die zu den Menschen passen, fördert Talente und nimmt Rücksicht auf besondere Anforderungen. Das ist doch gut!

These 6: Fachkräftemangel macht Diversität normal
Wer anders ist, hat Pech gehabt. Das galt auch lange für Menschen mit anderen Lebensweisen als die vermeintliche „Norm“. Das gilt z.B. für die sexuelle Orientierung. Sollte längst egal sein und jeder frei in seinem Lebensstil. Ist es aber nicht.
Homosexualität im Profi-Fußball? Gibt es bisher praktisch nicht – jedenfalls noch nicht öffentlich. In anderen Bereichen sind wir da weiter und es gibt viele Vorreiter im Management großer Firmen. Das schafft Vorbilder. Die Stadt Köln wirbt mit ihrer Vielfalt und siedelt damit erfolgreich Unternehmen und Fachkräfte an. Das ist toll – sollte aber eigentlich normal sein und kein Standortvorteil.
Talentierte Menschen, die Firmen verlassen, weil Kultur und Führungskräfte ein freies und entspanntes Leben nicht zulassen, kann man sich immer weniger leisten.
Offenheit und Diversität aus Überzeugung wären zwar besser, aber manchmal folgt dem Sinneswandel aus dem Leidensdruck ja auch die spätere Erkenntnis…

These 7: Fachkräftemangel verschafft älteren Menschen mehr Wertschätzung
Fehlt der Nachwuchs, muss man sich halt mehr um die kümmern, die schon da sind.
Sind die Jungen knapp, müssen die Alten länger ran.
Ergo: Nett sein, weiter qualifizieren, respektvoll führen und flexible Ausstiegsmodelle und Teilzeitregelungen schaffen. Das sollte Vorteile für verdiente Mitarbeitende mit viel Erfahrung bedeuten. Kann so schlecht nicht sein…

These 8: Fachkräftemangel könnte das Schulsystem besser machen
Bei der These bin ich am skeptischsten. Da sind die Beharrungskräfte enorm. Aber wenn es überall an Berufseinsteigern mangelt, müssten wir doch alles dafür tun, dass auch nicht ein einziges Kind auf dem Weg „verloren“ geht.
Das sollten wir sowieso – schon der Kinder zuliebe. Durch den Fachkräftemangel könnte der Druck aber steigen – und die professionelle Unterstützung. Ein großes Thema für sich, viele dicke Bretter und eine Menge nötigem Leidensdruck und guter Initiativen, um die Dinge wirklich zu verändern.

These 9: Fachkräftemangel beschleunigt Innovation
Wissen Sie noch? Vor Corona kam zum Jahreswechsel immer ein Mitarbeiter der Verwaltung zum Ablesen der Zählerstände für Gas und Wasser. Und ein paar Tage später ein Mitarbeiter der Versorger für die Stromzähler.
Das geht seit Corona online. Selbst. Schnell. Arbeitssparend. Und spart eine Menge Arbeitskraft.
Fehlt es an Manpower zum Durchforsten von Formularen, löst die App vielleicht doch das Faxgerät ab. Manchmal bringt erst die Verknappung von Arbeitskraft den Zufluss an Ideen und Veränderungsbereitschaft.
Nicht ideal und ein bisschen spät – aber geht doch.

These 10: Fachkräftemangel befördert die Transformation der Gesellschaft
Klingt abstrakt. Was meine ich?
Mir kam es vor Jahren schon komisch vor, wenn der Staat eine schlechte Firma mit großem Tamtam und Pressekonferenzen gerettet hat – wegen der Arbeitsplätze. Da hat man alte Branchen gepäppelt und schlechte Firmen über Wasser gehalten (nur die großen – Mittelständler mussten ihre Probleme selbst ausbaden) – wegen der Arbeitsplätze.
Wenn sich die Energieversorgung ändert, wenn Autos anders angetrieben und Einkäufe anders getätigt werden – dann darf man das nicht aufhalten „wegen der Arbeitsplätze“. Natürlich muss man das planbar gestalten, muss das Lernen neuer Fähigkeiten fördern und die Betroffenen unterstützen.
Je stärker der Fachkräftemangel greift, desto mehr läuft die alte Fortschrittsverhinderungsformel „wegen der Arbeitsplätze“ ins Leere. Auch das kann so schlecht nicht sein.

Also – Sie sehen, da kommt doch eine Menge zusammen. Das hilft Ihnen im täglichen Wettbewerb im Arbeitsmarkt nur indirekt (obwohl: im Grunde stecken in jeder der Thesen Chancen für innovative Arbeitgeber).
Doch allein, sich dem allgemeinen Klagen zu entziehen, kann schon ganz erfrischend sein und erkenntnisreiche Gespräche auslösen.
So kann der Fachkräftemangel tatsächlich eine Menge Gutes bewirken.

Podcast – Positive Auswirkungen des Fachkräftemangel

Für Unternehmen stellen die in einigen Jahren fehlenden 6 Millionen Arbeitskräfte eine riesige Herausforderung dar. Doch es gibt auch enorme Potenziale – jedenfalls für die guten Arbeitgeber. Für Gesellschaft und Arbeitswelt als Ganzes gibt es sogar weitreichendes positives Veränderungspotenzial.

2022-02-08T13:37:23+01:00
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