Boomer im Abflug

Manchmal könnte ich schreien.
Manchmal tue ich es auch.
Gesprächspartner und Workshop-Teilnehmer erschrecken dann kurz.

Ein Anlass sind Gespräche mit Menschen um die 55 bis 60, die mir in größter Selbstverständlichkeit erzählen „Ich hab ja nicht mehr lange“ oder „Für mich lohnt das nicht mehr“. Frage ich dann nach (man weiß ja nicht, vielleicht sieht er oder sie ja einfach nur viel jünger aus…?), stellt sich dann oft eine berufliche „Restzeit“ von 5, 7 oder gar 10 Jahren heraus.

Warum ich schreien muss?
Weil ich es nicht fassen kann, wenn man für einen so langen Zeitraum keine motivierenden Ziele und keinen Plan hat. Welch eine Verschwendung an Lebenszeit, Energie und Potenzial!
Was kann man in 5-10 Jahren nicht alles machen?
Eine Firma gründen und etablieren. Ein Enkelkind von der Geburt bis zur Schule begleiten. Sich in ein ganz neues Themenfeld einarbeiten. Die Welt mehrfach umrunden – notfalls zu Fuß. Man könnte auch eine neue berufliche Aufgabe suchen und ausfüllen. Oder ein besonderes Hobby leben – es muss ja nicht gleich Paragliding sein.
Die Realität ist leider oft eine andere.
Menschen haben sich arrangiert, haben ein ordentliches Maß an „resignativer Reife“ erlangt – wie das mal jemand euphemistisch umschrieben hat.

Zufrieden ist man nicht. Ambitionen hat man kaum noch. Man hat sich arrangiert mit einem Mix aus Durchschnittlichkeit und Zynismus. Das wird schon für die letzten Jahre reichen – man zählt die Tage.
Erwartet man selbst nicht mehr viel, erwartet auch das Umfeld – Chefs und Kollegen – keine großen Sprünge mehr von mir. Sie zählen nicht die Tage, können es aber kaum erwarten, bis die „Alten“ endlich weg sind und Platz machen.
Frust auf allen Seiten.

Die Boomer – Problemkinder oder Heilsbringer?

Mein Thema – Der Fachkräftemangel – hat ja gerade mediale Konjunktur. Er ist gerade wieder als größte Bedrohung des zukünftigen Unternehmenserfolgs an die Spitze der Rankings zurückgekehrt. Trotz Corona und unterbrochener Lieferketten. Die Boomer-Generation spielt da eine große Rolle. Meist als Sündenböcke. Zuerst haben sie nicht für genug Nachwuchs gesorgt, dann verkrümeln sie sich in großen Zahlen in Ferienhäuser und Wohnzimmer und hinterlassen den Arbeitsmarkt in einer demografischen Katastrophe.

Da werden mehrere Millionen Arbeitskräfte in Deutschland fehlen – in gerade mal 10 Jahren. Doch die Menschen auf den letzten Etappen ihres Berufslebens können so ein großes Potenzial sein. Genau darum geht es in der heutigen Podcastfolge.

Ich beleuchte 4 Handlungsfelder, die Mensch wie Firma die Potenziale der letzten Berufsjahre viel besser nutzen lassen als es heute üblich ist.

Wie die letzte Berufsetappe zum krönenden Abschluss werden kann

Schon in meinem Gespräch bei der Messe Zukunft Personal bestätigte mir Herrmann-Josef Kracht meinen Eindruck: zwar müsste der Leidensdruck des Fachkräftemangels die Situation für ältere Bewerber viel besser machen als früher.

Doch das hat sich offenbar noch nicht herumgesprochen, bzw. verhindern Vorbehalte die Nutzung dieser Potenziale. Dabei wäre es für alle Beteiligten vermutlich wertvoll, wenn auch in höherem Alter der Umstieg in eine neue Firma oder Tätigkeit viel öfter erfolgen würde.
Das wäre oft die weitaus gesündere Alternative als die sonstigen Optionen „Durchhalten“ oder „Vorruhestand“.
Viel häufiger und leichter zu realisieren, dürfte die gute Gestaltung der letzten Berufsetappe im angestammten Unternehmen sein.

Das Wichtigste dabei: früh genug offensiv die möglichen Gestaltungen der letzten Jahre ansprechen. Das ist eine Aufgabe guter Führung. Das kann aus der Personalentwicklung heraus initiiert und unterstützt werden.

„Welche Spuren möchten Sie hinterlassen?“

Das kann eine hilfreiche Frage sein, wenn man sich gemeinsam Gedanken über die letzten 5-7 Jahre im Unternehmen macht.
Stimmen Ziele, Motivation und Kompetenzen nicht mehr zusammen, ist der Frust vorprogrammiert. Auf allen Seiten.

Da müssen Prozesse erneuert und neue Technologien eingeführt werden. Der Funktion unseres verdienten Mitarbeiters kommt dabei vielleicht eine zentrale Rolle zu.
Ist dann jemand in diesem Job mit der Haltung „Tage zählen“ – muss es Frust geben. So entsteht auch für verdiente und langjährige Mitarbeiter ein durchwachsener Ruf im Unternehmen. Auf einmal sind sie „Bremser“, „Blockierer“, die „Gestrigen“. Spaß macht das nicht. Für keinen.
Dann wäre es doch viel besser, diese Stress-Funktion frühzeitig in jüngere Hände zu legen und in einem anderen Feld für einige Jahre einen wertvollen Beitrag für das Unternehmen zu leisten. Sei es in Sonderprojekten, in der Ausbildung oder in der Know-How-Sicherung für die Zukunft.

Umgekehrt gibt es sehr erfahrene Mitarbeiter, die regelrechte Innovationstreiber sind. Wie mir gerade ein IT-Leiter bei einem Kunden sagte „Es ist komisch – ich habe immer die Ideen, die die 30jährigen eigentlich haben müssten!“
Das Entscheidende: motivierende Aufgaben und Ziele sind keine Frage des Alters. Gute Führung sorgt für leuchtende Augen und Vorfreude auf die Aufgaben der nächsten Jahre.

Wie Ausstieg und Nachfolge gelingen

Selbst wenn die Schlussphase gut gestaltet wird, ist die demografische Entwicklung eine enorme Herausforderung für die Unternehmen. Oft gehen ganze Teams und Abteilungen absehbar in einem kurzen Zeitraum in Rente.

Das ist absehbar. Und ruft nach Strategien und Konzepten für gelungene Nachfolgeprozesse und Knowhow-Transfer. Jetzt braucht es Nachwuchs-Programme, um systematisch Potenzialkandidaten aus den eigenen Reihen aufzubauen.

Mit klugen Modellen wie Mentoring, altersgemischten Teams oder Lernpartnerschaften kann der Übergang gut gelingen. Wer sich darauf nicht früh genug vorbereitet, wird ein langes Gesicht machen.

Was machen Sie zwischen 60 und 90?

Demografieforscher empfehlen schon lange, dass wir im Durchschnitt viel länger arbeiten müssen, wollen wir keine Arbeitsplätze verlieren.

Man muss kein Prophet sein, um zu prognostizieren, dass sich kein Politiker mit der Forderung nach einer verpflichtenden längeren Lebensarbeitszeit auf die Bühne traut.
Doch jenseits von starren Regeln gibt es ein riesiges Potenzial für die flexible, freiwillige und kluge weitere Berufstätigkeit im früheren „Rentenalter“. Warum soll, wer das möchte, nicht noch ein paar Jahre beruflich aktiv bleiben?
Das geht bei Dienstleistern und Ingenieuren genauso wie bei Handwerkern, Medizinern und Pflegekräften. Wir sollten dieses weite Feld aus dem Schatten des Arbeitsmarktes herausholen. Förderliche Regelungen, eine positive Bereitschaft und gute Pionier-Beispiele können helfen.

Für Menschen, die das wollen, ist eine sinnvolle Weiterbeschäftigung oder die nebenher gegründete Altersselbständigkeit in jedem Fall viel gesünder und erfüllender als die Verdammung zur Untätigkeit und Unterforderung zwangsverrenteter Leistungsträger.

Loslassen will gelernt sein

Der letzte Punkt ist der Persönlichste. Nach vielen Jahren und Jahrzehnten großen Engagements irgendwann nicht mehr berufstätig zu sein, kann eine harte Umstellung sein.
Dabei macht es einen Riesenunterschied, ob man für die Zeit danach eine klare Perspektive hat oder auf das große Ungewisse zutreibt.
Menschen mit einer klaren Idee für die nächsten Jahre nach der offiziellen Regelbeschäftigung gehen ganz anders. Für sie ist das Ende des alten Hauptjobs weniger ein Ende als vielmehr ein Übergang zu etwas, auf das man sich freut.

Je klarer und motivierender die Perspektive, desto leichter der Ausstieg. Je besser jemand weiß, was er oder sie in der nächsten Etappe machen will, desto leichter tut man sich mit Veränderungen im Hauptjob für die letzten Jahre.
Für Motivation und Gesundheit dürfte es dabei ziemlich egal sein, ob Sie mit einem Hobby wie dem Paragliding anfangen, einen neuen Berufszweig starten oder einfach für bestimmte Projekte als Berater oder Experte tätig bleiben.
Diese Klarheit zu erreichen, ist eine ganz persönliche Angelegenheit. Doch kluge und weitblickende Unternehmen unterstützen Ihre Mitarbeiter dabei, diese Klarheit zu erreichen.
Wer damit früh genug anfängt, kann ein enormes Potenzial heben.

Gestalten Sie aktiv die letzten Etappen des Berufslebens ihrer verdienten Mitarbeitenden. Unterstützen Sie sie dabei, einen eigenen, motivierenden Weg zu entwickeln – persönlich und im Unternehmen.
Entwerfen Sie kluge Nachfolge-Konzepte und gute Kommunikation zwischen den Generationen. Davon profitieren alle.
Sie sehen, Potenziale für den Arbeitsmarkt lauern auch an Stellen, die nicht jeder auf dem Schirm hat. Die Zahl der „Betroffenen“ ist riesig. Die Chancen sind es auch.

Podcast – Die letzte Arbeitsetappe

Die Generation der Boomer und damit eine große Gruppe an Menschen geht in naher Zukunft in Ruhestand. Die einen freut’s, andere sind da weniger entspannt. Denn sie sind auch Ursache des drohenden Fachkräftemangels. Statt diese bevorstehende Zeit einfach auf sich zukommen zu lassen, sollte einmal ein Blick auf das enorme Potenzial dieser Gruppe geschaut werden. Kann die letzte Berufsetappe bewusst und erfüllend gestaltet werden, profitieren alle. In der dieser Folge liegt der Fokus auf einer oft unterschätzten Zielgruppe: die Menschen 58plus.

2021-10-26T12:18:51+02:00
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